Designer Andreas Berlin zeigt uns sein Berliner Studio


Berlin ♥ Berlin

„Berlin ist eine sehr tolerante Stadt. Diese Toleranz bietet Platz zum Atmen und zum Denken“, meint Andreas Berlin bei unserem Interview in seinem minimalistischen und zugleich lebhaften Wohnatelier, das er mit seiner Frau, der Multimedia-Künstlerin Sabine Dehnel teilt. „Ich finde die Vielfalt von Menschen und Kulturen sehr inspirierend. Nicht nur jede Kultur ist anders, sondern auch jeder Mensch. Manchmal hat man das Gefühl, nur eine Straße weiter eine ganz andere Welt vorzufinden. Die Stadt Berlin muss achtsam sein, dass sie sich durch ökonomische Überlegungen nicht zu sehr verändert. Seine Seele sollte man nie verkaufen!“

Der Designer kommt ursprünglich aus der kleinen bayerischen Stadt Weißenburg. Für ihn ist seine Wahlheimat Berlin aber von so großer Bedeutung, dass er sich nach ihr benannte. „Ein Freund erzählte mir, dass er jemanden kennt, der mit Nachnamen Berlin heißt“, erklärt er. „Ich dachte mir, so würde ich auch gerne heißen. Ich bin meinem Gefühl nachgegangen und habe es nicht bereut. Mein neuer Name bereitet mir immer wieder schöne Momente.“

Die Arbeiten von Andreas vereinen Vintage mit Zeitgenössischem. Auch die Stadt ist eine Verschmelzung von ungewöhnlicher Geschichte und Bürgern, die das Alte mit dem Neuen vereinen. Diese Verbindung ist in den Kiezen gut zu erkennen, wie Andreas bereits vermerkte. Jeder Kiez ist eine eigene kleine Welt voller kultureller Vielfalt. Feine Cafés in Prenzlauer Berg und Charlottenburg komplementieren die mit Graffiti versehenen Häuserfassaden und Open-Air-Clubs in Neukölln und in Kreuzberg. Alle sind willkommen. „Berlin lebt von Kontrasten und dennoch leben ihre Einwohner*innen im friedlichen Miteinander“, meint der Designer.

Andreas und Sabine zogen 2006 nach Berlin. Die Welt stand ihnen offen, doch sie entschieden sich für Berlin, da sie die Hauptstadt als wichtigen Standort für ihre kreativen Karrieren betrachteten und außerdem andere europäische Städte von hier aus gut zu erreichen sind. Berlin ist dafür bekannt, künstlerische Freiheit zu fördern und kleine Gemeinschaften im Kiez zu unterstützen. Nach der Geburt ihrer Zwillinge spürte Andreas eine tiefgreifende Veränderung in seiner Karriere als Designer. Er nahm sich eine Auszeit von seiner Tätigkeit als Freiberufler und verbrachte viel Zeit mit seinen Kindern. Er ging in seiner ruhigen Nachbarschaft am S-Bahnhof Südkreuz mit Kinderwagen spazieren und gönnte sich einen Kaffee, wenn die Kleinen schliefen. Diese ruhige und entspannte Zeit bewog ihn dazu, über seinen nächsten Karriereschritt nachzudenken. „Ich habe ziemlich schnell festgestellt, dass es keinen Sinn macht, eine Kollektion zu entwerfen, die überall zu finden ist“, so Andreas. „Ich musste also etwas konzipieren, das nicht massenproduziert und beliebig ist.“

Die Arbeiten seiner Frau führten Andreas oft auf einen gemeinsamen Ausflug zum Flohmarkt. „Das war der Anfang,“ meint er lächelnd und zeigt auf den Kopf einer Vintage-Schaufensterpuppe, die einen von seiner Frau filigran gewebten Kopfschmuck trägt, der mit elfenbeinfarbenen Knöpfen bestickt ist. Der Kopf sitzt auf einer bunten Anrichte, die wiederum aus einem kleinen Laden aus Barcelona stammt.

Dehnels Kopfschmuck, neben weiteren Vintage- und Contemporary-Designs Foto © Marco Lehmbeck für Pamono
„Einmal stand ich auf dem Flohmarkt vor einem Stand, der Vasen verkaufte“, erzählt Andreas, „all die wunderschön gestalteten Formen haben mich verzaubert. Als Künstler befasse ich mich sehr gerne mit abstrakten Kompositionen. In diesem Fall faszinierten mich die Formen der Vasen, nicht ihre Funktionen.” Die optische Erfahrung prägte ihn sehr, sodass er später den Tisch bei  Bekannten bewunderte: „Sie hatten diesen altmodischen, verzierten Tisch mit klassischen geschwungenen Tischbeinen. Und ich dachte mir, wenn man jedes Bein in mehrere Scheiben schneidet, sieht das aus wie vier oder fünf verschiedene Vasen.“ Diese Erlebnisse brachten schließlich eine neue Geschäftsidee hervor. Andreas gründete 2016 seine eigene Marke und stellte diese mit seiner ersten Serie kleiner Beistelltische vor, die aus Vasen verschiedener Flohmarktbesuche bestehen.

Wir betreten die Werkstatt von Andreas und finden zahlreiche stolze Flohmarkt-Fundstücke vor. Verschieden große und unterschiedlich geformte Vasen in allen Farben des Regenbogens, aus diversen Materialien zieren die Wände. Einige sind so filigran, dass sie für den anstehenden Brennvorgang zu zerbrechlich wirken. Andere bestehen aus dickem Glas mit feinen Gravuren, die ihren Korpus wie Lianen überziehen und vereinnahmen. Andreas glaubt daran, bei der Konzeption von neuen  Werken aus der Geschichte zu lernen. Er sinnt beim Entwerfen darüber nach, wohin wir uns als Gesellschaft bewegen. Die Zerbrechlichkeit seiner Vasen und die zeitaufwendige Handarbeit ihrer Produktion sind der genaue Gegensatz von dem vorherrschenden und allseits verwendeten Kunststoff. Jede Vase stammt aus einem anderen Ort und einer anderen Zeit und besitzt ihre eigene Biografie. Seine Lieblingsstücke stammen aus Brandenburg. „Diese Vasen stammen aus einer vergangenen Welt, eine, die es heute nicht mehr gibt.“

Andreas gesteht, dass seine Designs seinen verträumten Vorstellungen entspringen. In ihrer Produktion sind sie jedoch akribisch genau. Die Vasen für seine Small Tables müssen so exakt aufeinander abgestimmt werden, dass Andreas drei bis vier Tage bis zu einem ganzen Monat an ihnen sitzt, um die perfekte Kombination zu entwickeln. Während die Formen zusammenpassen müssen, sollen gleichzeitig auch Farben und Texturen harmonieren. Dieser Prozess verlangt dem Designer Geduld, Ausdauer und einen scharfen Blick ab. Andreas spricht auch über technische Perfektion: „Als Industriedesigner- und hersteller ist es unmöglich, ein perfektes Produkt zu produzieren. Wichtiger als Präzision ist aber die Ausstrahlung des Stücks, seine Seele. Dies hat viel mit den eigenen Erfahrungen zu tun, dem, was man weiß, was man gelernt hat, was man als Designer erlebt hat.“

Berlins Movie Sofa für Interprofil, und Dehnels Kunstwerk an der Wand Foto © Marco Lehmbeck für Pamono
Die Small Mirrors Serie von Andreas ist umrahmt von Kristallglas, das von Schälchen stammt, wie sie einst von seiner Großmutter verwendet wurde. Seine Shelf Sculptures Serie, die auch seine Flohmarktvasen umfasst, wirft einen nüchternen Blick auf Technologie: „Ich dachte dabei an digitale Lesegeräte und an den Zeitpunkt, an dem es keine Bücher mehr geben wird.“ Das fast völlige Fehlen von Technologie in seinem Wohnatelier ist kaum zu übersehen. Nicht einmal einen Fernseher gibt es hier.

Wir begeben uns in den langen Flur, der mit den Werken von Andreas und Sabine ausgestattet ist. Auf der einen Seite befindet sich das weiße Movie Ledersofa, das er für die schweizer Firma Interpril entwarf. Es ist ein gutes Beispiel für die Zeit, die Andreas als Industriedesigner arbeitete und war gleichzeitig seine „Eintrittskarte in die Luxuswelt“, in seinen Worten. Hinter dem Sofa steht eine große mit Spitzendeckchen überzogene Leinwand. Andreas spricht mit großem Respekt über das Werk seiner Frau. Er erklärt, wie Ansätze ihrer Arbeit auch sein Schaffen beeinflussen. Über ihr Zusammenleben sagt er: „Es ist wichtig, dass es nicht nur Charles Eames war, sondern auch seine Frau Ray. Viele erkennen nicht, wie viel Einfluss sie auf seine Arbeit hatte. Die Geschichte ist etwas verzerrt, zugunsten von Charles. Sie ist falsch. Die zwei waren ein Paar, die zusammen gearbeitet haben. Sie waren sehr experimentierfreudig, das bewundere ich sehr.“

Wir gehen wieder in das geräumige lichtdurchflutete Wohnzimmer, wo wir morgens saßen. Er sitzt in seinem Arne Jacobsen Swan Chair, ich daneben im DAX Chair aus Glasfaser von den beiden Eameses. Am Ende unseres Gesprächs widmen wir uns wieder Berlin. Die Stadt hat sich seit der Ankunft der beiden stark verändert, inspiriert aber weiterhin in großem Maß die Schöpferkraft von Andreas und wirkt sich auf seine große Leidenschaft für Design, auf seine Familie und auf sein Leben aus.

  • Übersetzung von

    • Jessica Hodgkiss

      Jessica Hodgkiss

      Jessica ist Cheesecake-Enthusiastin, Kunstliebhaberin und man findet sie häufig auf Flohmärkten. Außerdem liebt sie es, Zeit in Berlins wunderschönen Parks und den Seen in der Umgebung zu verbringen. Die in München geborene Übersetzerin studiert zur Zeit Kunstmanagement im Master.

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