Wie die Niederländer Mitte des 20. Jahrhunderts modern wurden


Zugunsten der Funktion

Von Rebecca McNamara

Wenn man Designliebhaber weltweit zu niederländischem Design des 20. Jahrhunderts befragt, werden die meisten bekannte Objekte der frühen Dekaden im Kopf haben, wie den Red Blue Stuhl (1917) von De Stijl-Architekten Gerrit Rietveld oder den Freischwinger aus Stahlrohr (1926) von Bauhaus Designer Mart Stam. Vielen werden auch die konzeptionellen Arbeiten von Droog einfallen, wie etwa der Rag Sessel (1991) von Tejo Remy oder der Knotted Sessel (1996) von Marcel Wanders, die das globale Design in den 1990ern entscheidend veränderten. Zwischen diesen Eckpfeilern erstreckt sich jedoch eine reiche Auswahl von modernen Designs, die in der Geschichte häufig übersehen werden. Niederländisches Design zu Beginn und Ende des 20. Jahrhunderts Rietveldss Red Blue Chair (1917) Genehmigung von Cassina; Remys Rag Chair (1991) Genehmigung von Droog (Fotograf: Gerard van Hees)
 Erstaunlicherweise tragen diese wenig beachteten Arbeiten dieselben beliebten wie modernen Eigenschaften, die auch amerikanischen, skandinavischen und italienischen Werken aus der Mitte des Jahrhunderts zugrunde liegen – einfach, funktional, erschwinglich.

Niederländische Designer und Hersteller der 1940er, 50er und 60er waren stolz auf die Entwicklung neuer Massenproduktionsverfahren, mit deren Hilfe sie stark rationalisierte Produkte herstellten und gleichzeitig die strengen Regeln der Moderne befolgten: unkomplizierte Formen, minimaler Materialverbrauch, praktische und leicht anwendbare Entwürfe und Preise, die auf die Mittelschicht zugeschnitten waren. In Folge dieser Bemühungen entstanden Möbel, Leuchten und Accessoires, die durchweg innovativ, reduziert aber ästhetisch waren und gleichzeitig ein einmalig gemütliches Ambiente schufen.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Niederlande von ihrer fünf Jahre währenden deutschen Besatzung befreit, unter welche die Moderne verboten gewesen war und Künstler, die ihre Kunst weiterhin ausüben wollten, sich dazu gezwungen sahen, den unterdrückenden Standards nachzukommen. In der Nachkriegszeit wurden die Zivilrechte wieder eingeführt. Das Land hatte jedoch mit zahlreichen Herausforderungen zu kämpfen, wie dem Aufbau der Infrastruktur und dem Wiederaufbau der beeinträchtigten Wirtschaft, sowie der vorherrschenden Wohnungsnot – verschärft durch die hunderttausenden Zwangsarbeiter und Gefangenen, die aus Deutschland und Polen zurückkehrten, sowie denjenigen, die aus ihren Verstecken wieder auftauchten. Erst in den 1950ern erholte sich die niederländische Wirtschaft dank des Marschallplans der USA. Moderne Designer trugen eifrig zu diesem Aufschwung bei, indem sie Manufaktur und Einzelhandelskonsum mit neuen Produkten vorantrieben, die den Bedürfnissen und Lebensstilen der Nachkriegszeit entsprachen.

Verbraucher, Geschäftsleute und Designer schlossen sich 1964 zusammen, um die Stichting Goed Wonen (Stiftung Gut Leben) zu gründen und gemeinsam das Problem der Materialknappheit zu lösen. Qualität und Komfort des alltäglichen Lebens sollte durch gute Entwürfe und die hochwertige Herstellung von funktionellen heimischen Designprodukten verbessert werden. Die Organisation, der unter anderem Designer wie Friso Kramer, Kho Liang Ie und Wim Rietveld angehörten, war der neue Inbegriff der „Moralischen Moderne'“ – einfaches, ehrliches und funktionelles Design. Dieser entstand aus der Enttäuschung vieler niederländischer Designer über die anspruchsvollen Ideale von De Stijl und anderen Bewegungen. Nach dem Krieg hielten Designer an den gleichen Idealen fest, stellten jetzt jedoch den drigend notwendigen Wiederaufbau eines vom Krieg zerrissenen Landes in den Vordergrund – wirtschaftlich durch gesteigerte Produktion und psychologisch durch wunderschöne wie hochwertige Güter.

Im gleichnamigen Magazin, das von 1948 bis 1968 neben einer Reihe von Ausstellungen und Lesungen erschien, plädierte Stichting Goed Wonen für „gutes Design.“ Dank der großen Beliebtheit stürmten zehntausende Menschen auf der Suche nach Inspiration die Showrooms. Goed Wonen befürwortete jene praktischen Designs ohne überflüssige Dekorationen, welche Materialeinsparungen veranschaulichten. Dazu gehörte das modulare, flach verpackte Made to Measure Regalsystem von Cees Braakman für UMS-Pastoe (1955), die ästhetische, puristische Counter Balance Deckenlampe von J. J. M. Hoogervorsts für Anvia (1950er), das minimalistische BR02 Schlafsofa von Martin Visser für ‘t Spectrum (1958/60) und die multifunktionalen Pyramid Tische und Stühle von Wim Rietveld für Ahrend De Cirkel (1960). Sogar das zurückhaltende, aber herzliche Wilma Teeservice mit herausragender Haptik von Edmond Bellfroid für Mosa war für die Stiftung von Belang. Verzierung war out, saubere Linienführung, monochromes Gewebe und anspruchsloser Nutzwert waren in. Auch wenn die Philosophien von De Stijl in der Nachkriegszeit nicht mehr galten, hielt man an geometrischen Formen und einer reduzierten Formsprache fest.

Wilma Porcelain Tableware von Edmond Bellefroid für Mosa (1953)
Die Niederländer suchten auch außerhalb des eigenen Landes Inspiration – wie bei Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe und der Bauhaus-Bewegung, aber auch bei verschiedenen skandinavischen Designern und ganz besonders Herman Miller wie auch dem Oeuvre von Charles and Ray Eames in den USA. Viele Designer – manche wurden sogar von der niederländischen Regierung finanziert – besuchten in den späten 1940ern und 50ern die USA und viele andere befassten sich mit ausländischen Zeitschriften und Ausstellungen. Niederländische Designer waren beeindruckt von der experimentellen Arbeit der Eames in Bezug auf gebogenes Sperrholz und bescheidene, klare Formen ihrer LCW und DCW Stühle. Wie stark der Einfluss war, spiegelt sich in einer Vielzahl von niederländischen Designs der 50er wieder, wie etwa dem Danish Chair von Gerrit Rietveld für Tomado (1946–1950), dem Revolt Stuhl von Friso Kramer für Ahrend De Cirkel (1953), dem SB02 Stuhl von Cees Braakman für UMS-Pastoe (1952–1954) sowie in den vielen Arbeiten aus gebogenem Sperrholz von Cor Alons für Lutjens/de Boer (1950er). Diese niederländischen Designer kopierten das Werk der Eames nicht einfach, sondern wurden durch ihren Umgang mit Formen, Material und ihren Fokus auf Massenproduktion und innovative neue Herstellungsverfahren inspiriert.

Laminiertes Holz, Rohrgeflecht, Rattan und Metall waren in der Nachkriegszeit allseits beliebte Materialen für Wohn- wie Büromöbel. Besonders Industriestahl passte ideal zur rationalen Ästhetik des Goed Wonen – als Vorreiter in diesem Bereich gilt Friso Kramer. Während sein Revolt aus dem Jahr 1953 – auf der Mailand Triennale 1954 in höchsten Tönen gelobt – den frühen Eames Stühlen ähnelte, war seine Produktionsweise sehr eigen. Anstelle von Röhren, die mittlerweile als Standard galten, stempelte, schnitt und bog er Stahlblech in eine neue stabile Form. Diese hob sich klar von den Stahlrohrmöbeln ab, die sich zu dieser Zeit in ganz Europa breit machten. Wer im Revolt sitzt, wird diese gewisse Nachgiebigkeit bemerken, die ein Zurücklehnen ermöglicht, ohne den Rest des Stuhls zu bewegen. Seine Kurvenlinie verhindert, dass Kleidung sich verheddert – nur eine der subtilen Entscheidungen Kramers, die sich auf die Bedürfnisse seiner Nutzer bezieht. Kramer entwarf einige Abwandlungen des Revolt Designs, wie den Result Stuhl von 1958 und einige andere, die zusammen mit Wim Rietveld entstanden. Der Revolt Stuhl ist in den Niederlanden so legendär, dass er noch heute hergestellt und in vielen Bereichen von fast jedem Schulkind oder Büroarbeiter genutzt wird. 

Der jüngste Sohn von Gerrit Rietveld, Wim Rietveld, hatte für seine Designs bescheidene Pläne: „gut geformt, stabil, praktisch und günstig“. Sein 1407 Stuhl für Gispen, den er zusammen mit André Cordemeyer entwarf und welcher 1954 mit einer Goldmedaille auf der Mailander Triennale ausgezeichnet wurde, beruht auf geometrischen Formen. Somit ähnelt der Stuhl den Arbeiten seines Vaters, auch durch die Standardpalette des De Stijl in Rot, Schwarz und Blau – allerdings verwendet er nicht alle auf einmal. Der SZ 63 Stuhl von Martin Visser für ‘t Spectrum (1960–1965) ähnelt in seiner Einfachheit und architektonischen Linienführung dem älteren, legendären Red Blue Stuhl von Rietveld. Anstelle von künstlerischem Formalismus oder philosophischen Ansprüchen gibt er jedoch Nutzen und Komfort den Vorzug. Der Bequemlichkeit halber gepolstert, lädt der Stuhl den Nutzer dazu ein, sich in ihm zu entspannen und nicht vor starren Holzbrettern zurückzuschrecken.

Verzierung war out, saubere Linienführung, monochromes Gewebe und schlichter Nutzen waren in. Im Gegensatz zu vielen Stühlen mit Bezug aus den USA oder Skandinavien, sind die niederländischen Ausführungen sehr gemütlich. Der 1953er Penguin Sessel von Theo Ruth für Artifort – niedrig, mit elegant gekreuzten Stuhlbeinen und einer großzügigen, genoppten Polsterung an Rückenlehne und Sitz – ist ein Paradebeispiel. Der große Erfolg von Artifort geht teilweise auf Ruth zurück, dem ersten festangestellten Designer, wie auch auf den in Indonesien geborenen Designberater Kho Liang Ie. Liang Ie brachte internationale Designer wie Pierre Paulin zu Artifort, welcher dort legendäre Designs der niederländischen Moderne entwarf – auch wenn der Designer selbst kein Niederländer war.

Paulins Nr. 577 Sessel aus dem Jahr 1967, besser bekannt als der Tongue Sessel, demonstriert durch sein lebendiges Design die Pop Art Einflüsse wie auch eine postmoderne Vorahnung und eine baldige Abwendung vom Rationalismus. Sein neues Verfahren, bei dem elastische Stoffe über Schaumstoff und Stahlrohr gespannt wurden – wie etwa in den Modellen Mushroom und Globe – war einfach und kosteneffizient für sowohl die Produktion als auch den Verbraucher: der Bezug lässt sich seitlich mit einem Reißverschluss öffnen, was eine praktische Reinigung ermöglicht.

Der Wunsch nach „gutem“ Design, das gleichzeitig ökonomisch, praktisch sowie bequem ist und dazu noch mit Goed Wonens Idealvorstellungen übereinstimmte, resultierte in den nüchternen, schlichten und doch höchst lebenswerten Formen, die sich oft in der niederländischen Moderne finden. Dennoch erlosch der Zauber, wie bei der vorherigen Designgeneration und deren Vorgängern. Bereits in den 1960ern wurden die strikten Richtlinien von Stitching Goed Wonen hinterfragt und erfuhren zunehmend Widerstand, der zwei Jahrzehnte anhalten sollte. Funktionalismus war out und wurde durch fröhliche, verspielte Widersprüche und Fragestellungen ausgetauscht. Obwohl eindeutig eine neue Ära begonnen hatte, überlebte die niederländische Mid-Century Moderne alle Modeerscheinungen. Auch wenn Historiker die Gründerväter des niederländischen Designs wie Bovenkamp, Galvanitas, Hala, Metz & Co., Raak und Wébé bis heute nicht kanonisieren, leben ihre Namen durch die Liebhaber des industriellen Interiors weiter.

 

*Besonderer Dank gilt den Marken und Organisationen, die uns die archivierten Abbildungen für diese Story zur Verfügung gestellt haben: Ahrend, ArtifortStichting Gispen CollectieNationaal ArchiefPastoe und Spectrum. Um selbst einmal einen Goed Wonen Ausstellungsraum zu sehen, besuchen Sie das Van Eesterenmusuem in Amsterdam.

  • Text von

    • Rebecca McNamara

      Rebecca McNamara

      Rebecca ist Museumsexpertin und Historikerin für Kunst, Design und Sachkultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie ist Koautorin von A Token of Elegance: Cigarette Holders in Vogue (Officina Libraria, 2015) und Autorin des E-Books Widows Unveiled: Fashionable Mourning in Late Victorian New York (Cooper Hewitt Museum DesignFile series, 2016). Bei Twitter findet man sie als @artdesignlust.

Designbegeisterte hier entlang