Die Berliner Designerin Tina Roeder widersetzt sich allen Trends


Das wahre Ich

Von Gretta Louw

In den früher 2000ern, während sie ihr Studium an der Design Academy Eindhoven abschloss und gleichzeitig bereits ihr eigenes Studio in Berlin aufbaute, stand Tina Roeder kurz vor ihrem großen Durchbruch als Designerin. Das Vitra Design Museum erwarb für seine ständige Sammlung eine Arbeit aus ihrer Serie White Billion Chairs (2002/2009), in welcher sie dreiunddreißig gefundene Einzelstücke von Hand mit bis zu 10.000 Bohrlöchern individuell bearbeitete. Von der Londoner Gallery Fumi vertreten und neben Designern wie Martino Gamper oder den Campana Brüdern in renommierten Magazinen präsentiert, wurden diverse Größen der Designwelt auf sie aufmerksam. Statt ihrem verführerischen Ruf ins Rampenlicht zu folgen, hörte die längst etablierte Designerin auf ihr Bauchgefühl und fand auf einer persönlichen Reise ihren eigenen magnetischen Pol. Geprägt von den beruflichen Erfahrungen der letzten fünfzehn Jahre, wurden ihre Arbeiten komplexer und tiefgründiger. Heute weiß sie auch die gesellschaftliche Bedeutung von Design als Disziplin besser zu schätzen

Roeders Studio befindet sich auf der imposanten Karl-Marx-Allee —in einem klassischen Sozialbau, der in der Nachkriegszeit ursprünglich als Pilot für ein ostdeutsches Bauprojekt angedacht war. Die gesamte Gegend ist geprägt von starken Kontrasten: Glanz und Verfall, geschichtsträchtig und vergänglich zugleich. Die Designerin selbst ist eine organisierte und energische Frau, die gerne lächelt; ihre Umwelt, den Markt und wechselnde Trends betrachtet sie mit großem Interesse, aber auch einer gewissen kritischen Distanz. Ausgehend von ihren eigenen Beobachtungen und Analysen appellieren ihre Arbeiten gleichsam an Gefühl und Verstand. Bei Tee aus filigranen, henkellosen Tassen sprechen wir über ihren Weg von einer idealistischen Designstudentin zu der gestandenen Künstlerin und Designerin, die sie heute ist.

Verfolgt man Roeders Designs über die letzten zehn Jahre, wird ein klarer Spannungsbogen deutlich: eine kontinuierliche Entwicklung von Frühwerken, die Formen bis auf ihre Knochen reduzieren, zu späteren Arbeiten, die sich mit Schichtungen befassen. Man könnte sagen, dass ihr Interesse schon immer Strukturen und Ebenen galt. „Ich wollte nie ein architektonisches, minimalistisches Leben ohne jegliche Dekorationen leben”, sagt Roeder über ihre frühen Arbeiten. Ihr Abschlussprojekt Visual Anaesthesia (2004) —eine Serie, zu der unter anderem ihre beeindruckende Naked Couch zählt— wurde oft als strikt, spartanisch und, ja, minimalistisch missverstanden. Anhand der Fotos kann man leicht nachvollziehen, wie es zu dieser Fehlinterpretation kommen konnte. Die Naked Couch steht auf einem schmalen, eckigen Gestell aus verchromtem Stahl. Obwohl dieses Grundgerüst recht nüchtern wirkt, erzählen die angenehm weichen, rougefarbenen Lederriemen eine völlig andere Geschichte. Tatsächlich hat diese Konstruktion eines archetypischen Tagesbettes einen persönlichen Hintergrund; Roeder verbrachte auf Flohmärkten und bei Privatverkäufen Monate damit, wie besessen mehrere Dutzend von Bändern und Verschlüssen zu sammeln, welche sie anschließend fein säuberlich dokumentierte und individuell bearbeitete. Authentizität ist für diesen Prozess —und für Roeder als Schöpferin— alles. Es geht um die Sinnlichkeit des Erlebten, nicht um Asketismus.

Ein weiteres, hervorragendes Beispiel ist das Blue Leather Shelf (2012), welches mir Roeder in ihrem Studio zeigt. Auch hierbei handelt es sich um eine archetypische Form. Die klassische Arbeit besteht aus einem Stahlrahmen und ist —was für einen Überraschungsmoment sorgt— von Hand mit luxuriösem Leder bezogen. Trotz fehlender Verzierung und Verspieltheit sind diese Stücke Lichtjahre von einer minimalistischen Formsprache entfernt. Die einladende Haptik des perfekt verarbeiteten Lederbezugs über dem modernen Stahlgerüst versprüht subtile Extravaganz.

Roeders Blaues Leather Shelf (2012), Detail Foto © Pedro Gething für Pamono
Zu Beginn sprachen Kritiker in Bezug auf Roeders Arbeiten oft über eine Studie der Dinge, Objekte und Archetypen, aber sie selbst distanziert sich klar von diesen Kategorien. Roeder sieht ihre Arbeiten vielmehr als eine Suche nach Geschichten; sie will Narrative schaffen und die verschiedenen Perspektiven beleuchten, die in jeder Geschichte nebeneinander bestehen. Für ihre Serie Credenza entwickelte sie einen Arbeitsprozess, der additive Schichtungen mit subtraktiven Techniken verbindet. So schafft Roeder immer wieder Möbelstücke, die ihre Idee von geschichteten Strukturen und mehrschichtigen Deutungsebenen verkörpern. Der Custom Cabinet (2014), den sie gemeinsam mit der Gallery FUMI herstellte, besteht beispielsweise aus perlgestrahltem eloxiertem Aluminium, das mit einer CNC-Maschine gefräst wurde, um so wechselnde Einblicke in das Innenleben des Schranks zu gewähren.

„Versteckspielchen mag ich nicht”, erklärt Roeder, „alles muss freigelegt sein.” Sie geht hierfür jedoch nicht so direkt vor wie es vielleicht ein industrieller Ansatz ermöglichen würde. Ihre Arbeit konzentriert auf die Schwelle zwischen Grundgerüst, Aufbau und Verkleidung. Wie konzeptionell Roaders Arbeit sein kann zeigt sich wohl am besten in der Slow Light Credenza (2010). Diese ätherische Konstruktion besteht aus 5068, jeweils 2mm breiten Glasstreifen, die auf langen Stahlbeinen angebracht sind. In diesem komplett transparenten Designstück kann buchstäblich nichts verborgen bleiben. Slow Light ist vielmehr Kunstwerk als funktionelles Design. Oder vielleicht ein Schmuckstück. In der Tat, Roeder sieht ihre Arbeiten als riesige Schmuckstücke; es hat etwas mit dem inneren Wert, der Detailarbeit und dem Handwerk zu tun, dass sie dieses Genre so stark fasziniert.

Wie kann es aber sein, dass man von einer Designerin wie Tina Roeder —der es nicht an Ideen zu fehlen scheint und die schon früh in ihrer Karriere beeindruckende Erfolge verzeichnete (wie das Nude Facade Credenza aus Edelstahl und taubengrauem Wildleder, das sie 2010 zusammen mit Fumi und der Fendi Privatkollektion entwickelte)— in den letzten Jahren nichts gehört hat? Das liegt wohl daran, dass sie schon früh eine Strategie verfolgte, der sich heute immer mehr Künstler und Designer verschreiben: Langsamkeit. „Innovativ zu sein braucht seine Zeit,” sagt Roeder, die ihre Karriere eher als Lebenswerk als ein kurzes Rennen betrachtet. Die letzten drei Jahre hat sie nur mit Recherche- und Denkphasen verbracht. „Man muss nachdenken über das, was man in die Welt setzt”, bemerkt sie mit dem Zusatz, dass einige ihrer Kollegen ihrer Meinung nach „zu leichtfertig mit dem umgehen, was sie produzieren.”

Roeders Nude Facade Credenza (2010) Foto © Guido Mieth
Roeder ist in bester Gesellschaft. Der Leiter des MoMa Glenn Lowry sagte, dass „Langsamkeit vielmehr eine Tugend als ein Problem ist, wenn es um das Denken geht.” Und wenn man wie Roeder vielmehr darauf bedacht ist, für sich selbst eine Nische in der großen Ruhmeshalle der Designwelt zu finden, als seine Arbeiten bei jeder Veranstaltung der Designindustrie auszustellen, dann sind diese Phasen freien und analytischen Denkens unabdingbar. Eines steht fest; die Credenza Serie besteht jede Prüfung und Roeder glaubt fest an das Potential dieser fortlaufenden Arbeit. „Mein größter Traum wäre es, pro Jahr nur einen einzigen Schrank herzustellen,” schwärmt sie. Ein absoluter Gegensatz zu jenen zeitgenössischen Designern, die sich pausenlos in rasanten Produktionsverfahren und PR-Maßnahmen befinden.

Die professionelle Hingabe zur Kunst hat jedoch ihren Preis, besonders in einer derart schnelllebigen, von Trends besessenen Branche. Roeder hat viel daraus gelernt, sich bewusst abseits dieses ständigen Kommen und Gehens von Modeerscheinungen zu bewegen: es waren harte Lektionen und Prüfungen. Ein Rat, den sie ihrem jüngeren Ich mit auf den Weg geben würde? „Glaub einfach an deine eigene Arbeit”, sagt sie; man müsse eine dicke Haut und Selbstvertrauen entwickeln. Mit Blick auf die Zukunft bedeutet das für Roeder, dass sie ihre Hartnäckigkeit in eine leichtere Form bringen möchte; „Ich will gleichzeitig mutig sein und Spaß haben.” Sie will sich einer neuen Kollaboration mit ihrem Partner —dem New Yorker Designer Ward Merrill Hooper— widmen und die Credenza Serie (natürlich langsam und beständig) weiterentwickeln. Letztere scheint dafür bestimmt zu sein, zum Vermächtnis der Designerin zu werden. Fast fünfzehn Jahre nach ihrem Studienabschluss und mit dem zehnjährigen Bestehen ihres Studios hat sich Roeder unserer Meinung nach nicht nur Zeit für spielerische Experimente, sondern auch einen Platz in der Designgeschichte mehr als verdient.

 

  • Text von

    • Gretta Louw

      Gretta Louw

      Die multidisziplinäre australische Künstlerin Gretta wurde in Südafrika geboren und lebt zurzeit in Deutschland. Sie ist Sprachenthusiastin und Weltenbummlerin, hat einen Abschluss in Psychologie und eine große Vorliebe für die Avantgarde.

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