In einem gemeinsamen Projekt trennen Hella Jongerius und Louise Schouwenberg Objekte von Dingen
Beyond the New
Während der Salone del Mobile in Mailand 2015 veröffentlichten Hella Jongerius und Louise Schouwenberg ihr gemeinsames Manifest Beyond the New: A Search for Ideals in Design, in dem sie zum Boykott “sinnloser Produkte, kommerzieller Trends und leerer Worte” aufrufen. Die legendäre Designerin und künstlerische Leiterin von Vitra, Jongerius, und Kunst- und Designtheoretikerin und Leiterin des Fachbereichs Contextual Design an der Design Academy Eindhoven, Schouwenberg, sorgten mit ihrer nachdrücklichen Kritik für ganz schön viel Wirbel. Ihre Abhandlung kritisiert die Designbranche, die das ewig Neue um der Neuheit willen fordert, anstatt sich für eine wahrhafte kulturelle Innovation einzusetzen.
Die beiden Niederländerinnen wollen es aber nicht dabei belassen, sich über die aktuellen Umstände der Branche zu beklagen und sich lediglich wissenschaftlich damit zu befassen. Sie nahmen deshalb eine Einladung des Münchner Designmuseums Die Neue Sammlung an, ihr Manifest unter der Leitung von Kuratorin Xenia Riemann-Tyroller in einer ortsspezifischen Installation in der renommierten Paternoster-Halle zu interpretieren. Die Ausstellung, die ebenfalls unter dem Titel Beyond the New lief, ging erst vor kurzem zu Ende. Aber keine Sorge, dieses Projekt ist noch lange nicht abgeschlossen.
Für die Vorbereitung der Ausstellung verbrachten Jungerius und Schouwenberg viel Zeit in den Archiven und den Lagerhallen der Einrichtung. Sie wollten wissen, wie das Thema Design in der Sammlung definiert wird und ob kulturelle Innovation im musealen Kontext des White Cubes überhaupt möglich ist. So suchten sie Schouwenberg zufolge nach “der Essenz von Design”, “Akteuren im Design” und beschäftigten sich damit, wie Designobjekte in Institutionen ”ihres eigentlichen Nutzwerts beraubt werden.” Das Ergebnis ist eine kompakte Ausstellung, umgeben von großformatigen Textilstücken, die von der Decke hängen und mit Fragen sowie Anleitungen zu den in der Paternoster-Halle präsentierten Arbeiten bestickt sind. Zu diesen zählen bewegliche maschinelle Bildschirme, sich fortwährend drehende, an den Paternoster-Aufzügen geworfene Projektionen und eine Reihe legendärer Möbelstücke, die flach auf dem Museumsboden aufliegen.
Ein zentrales Thema der grafischen Textilien war die Rolle, die Dinge gegenüber Objekten einnehmen. Jongerius und Schouwenberg zufolge unterscheiden sich beide insofern, dass einige Designstücke im Alltag Gebrauch finden während andere in musealen Umgebungen präsentiert werden. Jongerius erklärt die Entscheidung der Ausstellenden, Sätze und Fragen zu weben, statt sie direkt an die Wand anzubringen: “Wir können so die langsame, in Schritten erfolgte Recherche aufzeigen, die unsere ständige Suche nach Antworten sichtbar macht.” Die theoretischen und konzeptuellen Fragestellungen werden in der Ausstellung mit prozessorientierten Untersuchungen vermischt, die sowohl traditionelles Handwerk als auch High-Tech-Verfahren aufgreifen.
Angelehnt an die Annahme, dass Innovation im Design immer durch die Verbindung von historischen und neuen Herstellungsverfahren entsteht, verdeutlichen Jongerius und Schouwenberg das Wechselspiel von Handwerk und Technologie innerhalb der Ausstellung anhand mehrerer kinetischer, maschineller Arbeiten. Die Possibilities Machine (2016) verwandelt archetypische Formen in vor einer Lampe kreisende Buchstaben, die das englische Wort für Möglichkeiten – “possibilities” – formen. Die bewegte Silhouette des Wortes wird in Intervallen spiegelverkehrt auf ein schwebendes Gewebe mit abstraktem Motiv geworfen, das sich von der Wand abhebt.
Im mittleren Bereich der Installation werden legendäre Schränke und Aufbewahrungsmöbel von Größen wie Charles & Ray Eames, Ettore Sottsassund Maarten Baas gezeigt. Die waagrechte Darbietung der Arbeiten – alle liegen auf ihren Rückwänden über niedrigen Sockeln – grenzt sie von funktionalen Dingen ab. Sie werden zu Objekten – ästhetisierte Designstücke, die zur Betrachtung in einem musealen Kontext bestimmt sind. Beim Umschreiten der liegenden Arbeiten wird ihre Schönheit und Stofflichkeit deutlich, während ihre Funktionalität, die unseren Alltag maßgeblich prägt, in den Hintergrund tritt. Jongerius nennt dies “die Kluft zwischen der Erfahrung praktischer Dinge im Alltag und der Erfahrung von Dingen im Kontext eines Museums.”
Auch wenn die Ausstellung in ihrer Beschreibung eher seriös oder gar trocken wirkt, fehlt es ihr nicht an Unterhaltungswert: verspielt bietet sie eine Fülle haptischer und sensorischer Erfahrungen, die insbesondere in den für Jongerius typischen gewebten Wandbehängen zur Geltung kommen. Beyond the New erhebt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern lädt laut Jongerius Teilnehmende vielmehr dazu ein, “ihre Augen für die vielen Facetten jener Objekte zu öffnen, die sie im Alltag für selbstverständlich hinnehmen.” Das Werk von Jongerius und Schouwenberg erinnert uns daran, Design um uns herum mit unvoreingenommenem Blick zu betrachten und unsere Sammelleidenschaft an sich zu hinterfragen. Die Ausstellung macht darauf aufmerksam, dass Kopf und Hände untrennbar sind und nur gemeinsam wahrhafte Innovationen hervorbringen können. Das Verschieben der Grenzen im Design ist oft ein sich wiederholender, kommunikativer Prozess, der zwischen Designer*innen und Nutzer*innen, zwischen Innen- und Außenwelt, stattfindet. “Für mich ist der beste Schaffensprozess ein Wechselspiel zwischen intuitiver Handarbeit und tiefer Reflexion”, erklärt Schouwenberg.
Das Designduo Jongerius und Schouwenberg scheint eine Lösung gefunden zu haben, wie Reflexion und Intuition ineinander übergreifen oder sich überschneiden können und setzen ihre gemeinsame Forschungsarbeit auf verschiedenen Wegen fort. Dazu zählt die sehr empfehlenswerte Publikation Beyond the New. On the Agency of Things, die in Zusammenarbeit mit der Grafikdesignerin Irma Boom entstanden ist. Hier werden Verhältnisse und Unterschiede zwischen Objekten und Dingen näher beleuchtet, beispielsweise in fiktiven Dialogen mit Bauhaus-Legenden wie Walter Gropius, Johannes Itten und Anni Albers. Das Buch ist wunderschön, poetisch und absolut einmalig. Wir möchten es allen Designkenner*innen und -forscher*innen unbedingt ans Herz legen!
Außerdem freuen wir uns sehr, dass bald weitere Ausstellungen zu diesem Projekt folgen werden. Ab Mitte Oktober bis Mitte Januar 2019 wird Beyond the New im MUDAM in Luxemburg präsentiert. Hier werden alle Ausstellungsstücke gezeigt, die auch in München zu sehen waren. Anstelle der Präsentation der Schränke aus dem Archiv von Die Neue Sammlung, wird eine Videoprojektion des Filmemachers Alvar and Aino Aalto aufgeführt, der sich mit einer Arbeit aus der Sammlung MUDAMs auseinandergesetzt hat: die Installation Sanatorium Paimio-Mobilier d’une Chambre von Alvar und Aino Aalto aus den 1930ern. Die Wahl fiel Schouwenberg zufolge auf dieses Werk, weil es “viel über die damalige Gesellschaft aussagt... und sich mit der Rolle befasst, die Designer*innen einnehmen können, wenn sie mit schwerwiegenden Problemen wie etwa Tuberkulose konfrontiert werden. Kann Design die Not von Kranken lindern? … Und können Betrachtende zu einem späteren Zeitpunkt und an einem anderen Standort die Bedeutung dieser Designstücke für das Leben dieser Menschen intuitiv nachvollziehen?”
Ich habe das Gefühl, dass Beyond the New zu einem jener bedeutenden Projekte werden könnte, die später in Designschulen auf der ganzen Welt gelehrt werden. Die Chance, an diesem wichtigen Ereignis teilzuhaben, sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen!
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Text von
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Gretta Louw
Die multidisziplinäre australische Künstlerin Gretta wurde in Südafrika geboren und lebt zurzeit in Deutschland. Sie ist Sprachenthusiastin und Weltenbummlerin, hat einen Abschluss in Psychologie und eine große Vorliebe für die Avantgarde.
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Übersetzung von
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Jessica Hodgkiss
Jessica ist Cheesecake-Enthusiastin, Kunstliebhaberin und man findet sie häufig auf Flohmärkten. Außerdem liebt sie es, Zeit in Berlins wunderschönen Parks und den Seen in der Umgebung zu verbringen. Die in München geborene Übersetzerin studiert zur Zeit Kunstmanagement im Master.
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