Eine kleine Einführung in die Architektur des Brutalismus


Wagemut & Schönheit

Grob und eigenwillig, meisterhaft ausgearbeitet und in unnachgiebigen Materialien ausgeführt: Das ist Brutalismus von seiner besten Seite. Obwohl sich die Anfänge der Bewegung bereits über ein Jahrhundert zurückdatieren lassen, findet der Brutalismus seit kurzem zu einer neuen Generation eingefleischter Fans.

So wie die Fangemeinde des Brutalismus wächst, so wächst auch die Diskussion um mögliche erweiterte Anwendungsgebiete. Ausgehend von seinen architektonischen Ursprüngen und der zunehmend im Wert steigenden Reihe von Designobjekten, die von den 1960er Jahren bis in die Jetztzeit reichen, ruft die weitläufige Definition des Brutalismus bei einigen Designliebhabern größte Aufregung hervor, während sich anderen Designanhängern vor Unmut das Herz zusammenzieht. Dabei sind einige der Objekte erst seit kurzem unter Sammlern und Innenarchitekten erstmalig höchst gefragt.

In dieser zweiteiligen Story beleuchtet Pamono das topaktuelle Thema „Brutalismus“, beginnend mit dieser kurzen geschichtlichen Einordnung des Begriffs im Bereich der Architektur. Die Hintergrundgeschichte ist unserer Ansicht nach wichtig, um den größeren Kontext dieser aktuellen Design-Debatte nachvollziehen zu können.

Architektur, die dem Brutalismus zugeordnet werden kann, hat seine Wurzeln in Le Corbusiers monumentalen Meisterwerken der Skulptur aus rohem Beton – oder béton brut, wie er es bekannterweise nannte - aus der Zeit nach den 1930er Jahren. Dank Le Corbusiers ergiebiger Arbeit, finden sich zahlreiche Beispiele, die man an dieser Stelle heranziehen könnte, die wohl am häufigsten angeführte ist die 1954 entstandene Unité d'Habitation in Marseille. Es handelt sich dabei um sein erstes Architekturprojekt größeren Ausmaßes. Dieser massive öffentliche Gebäudekomplex wurde dazu entworfen, bis zu rund 1600 Bewohner aufzunehmen, die durch die Bombardierungen Frankreichs im Zweiten Weltkrieg ihr Zuhause verloren. Der Komplex galt als revolutionäre Stadt innerhalb der Stadt, vollständig ausgestattet mit Kindergarten, medizinischen Einrichtungen, Hotel, Sporthalle, Einkaufsmöglichkeiten und mehr, und erinnert mit seinen imposanten 18 Stockwerken in Blockstruktur, die auf kräftigen Stelzen stehen, an ein oberirdisches Kreuzfahrtschiff. Mit diesem Projekt bewies Le Corbusier bautechnisches Potenzial sowie die Erschwinglichkeit und die Anpassungsfähigkeit von rohem Beton als Baumaterial.

In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs begann eine Generation junger Architekten damit, Le Corbusiers ästhetischen Purismus aufzugreifen, sich gleichzeitig aber seinem ideologischen Dogma zu entledigen. Der schwedische Architekt Hans Asplund (Sohn von Gunnar Asplundprägte für diese neue Sorte Gebäuden, die jede Art von Dekoration radikal verwehrt, den neckischen Begriff des Nybrutalism. In der englischsprachigen Welt war es dann der britische Kritiker Reyner Banham, der den Begriff in den 1950er Jahren weitläufig bekannt machte, als er über die Arbeit von Alison und Peter Smithson schrieb. Banham zitierte das visionäre junge Paar mit einem Absatz, in welchem sie ihre asketisch anmutenden Werke beschrieben: „Es ist unsere Intention … die Struktur wo immer möglich vollständig freizulegen, ganz ohne versteckte Verzierungen. Der Bauherr soll sich ganz auf den hohen Standard der Basiskonstruktion konzentrieren, wie bei einer kleinen Lagerhalle.

Was zunächst als Tadel verstanden wurde, wurde schon bald zu einer Marke, die man mit Stolz trug. Vertreter des Brutalismus unter den Architekten bestätigten, dass ihre Arbeit brutal anmutete, denn genau das war ihr Anliegen. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren gaben dann schließlich auch diverse Regierungen, Institutionen und Mäzene von Brasilien bis Tokyo größere Projekte bei diesen avantgardistischen Architekten in Auftrag; so zum Beispiel Moshe Safdies dramatisches, Tetris-artiges Habitat 67 in Montreal oder die berühmte Geisel Bibliothek der University of California von William Pereira. Für eine Welt, die sich noch vom Trauma des Zweiten Weltkrieges erholte, bedeutete der Brutalismus eine erfrischend ehrliche visuelle Sprache und natürlich trugen die durchaus erschwinglichen Preise ebenfalls zum großen Interesse bei. Genauer genommen wurden auch ganze Universitätsgelände im brutalistischen Stil errichtet, so wie Paul Rudolphs Entwurf der University of Massachusetts Dartmouth oder ähnliche Projekte von Walter Netsch in Chicago.

Habitat 67 von Moshe Sadie, erbaut als Pavillon für die Expo 67 in Montreal (1967) Image © Nora Vass


Dann kam es jedoch zu einem Rückgang. Um die 1980er Jahre herum, als die konservativen Werte durch Reagan und Thatcher in den Mainstream getragen wurden, hatte man allgemein ein überwiegend schlechtes Bild von brutalistischer Architektur und führte sogar zunehmend Kampagnen, die zur Beseitigung entsprechender Gebäude aufriefen. Der Stil wurde mit den Ideologien des Ostblocks und seiner gescheiterten Wohnprojekte für Geringverdiener in Verbindung gebracht. Hinzu kamen die hohen Instandhaltungskosten – roher Beton mag zwar einen besonders imposanten Eindruck erwecken, ist tatsächlich aber sehr anfällig für den Zerfall. So boten viele der Originalbauten des Brutalismus schon nach ein bis zwei Jahrzehnten einen ermüdeten, heruntergekommenen Anblick. In vielen Köpfen wurde der Brutalismus zum Sinnbild von Armut und sozialem Verderben.

Churchill Gardens Estate in Pimlico London (1978) Spielplatz auf dem Dach des Churchill Gardens Estate in Pimlico London (1978) Photo © John Donat, RIBA Library Photographs Collection

Nichtsdestotrotz hatte der Brutalismus auch seine Verteidiger speziell in Architekturkreisen, die den Vorwürfen vehement widersprachen und die Beseitigung und den Abriss jener zu Wahrzeichen gewordenen Gebäude verurteilten. Manche gingen sogar soweit, dass sie von staatsbürgerlichem Vandalismus sprachen. Vielleicht ist es die menschliche Natur, dass wir Dinge für selbstverständlich erachten und sie erst zu schätzen begreifen, wenn sie im Inbegriff sind, direkt vor unseren Augen zu verschwinden. So kam es paradoxerweise, dass erst die giftig geführten Kampagnen des Anti-Brutalismus-Lagers – wie beispielsweise Prince Charles, der die brutalistischen Gebäude einst mit den Schutthaufen verglich, die nach den Bombenangriffen der Luftwaffe übrig blieben - dazu beitrugen, das öffentliche Interesse am Erhalt dieser sanften Riesen der Nachkriegsarchitektur zu wecken.

Springen wir nun in die heutigen Tagen, so erleben wir eine wahre Renaissance brutalistischer Inbrunst. In den letzten Jahren konnte man große Publikationsmedien wie die New York Times erleben, wie sie vom Brutalismus schwärmen und seiner Instagram-Tauglichkeit und schwarzweiß Fotogenität huldigen. Der Kult-Podcast 99% Invisible sowie hippe Galerien in Berlin und darüber hinaus feiern die poetische Schönheit dieses raubeinigen Stils.

 

*Lesen Sie Teil II unseres Brutalismus-Spezials und entdecken Sie, wie der architektonische Begriff sich auf die Bildende Kunst ausweitet, meist auf seltsamen Wegen, die nicht immer den ursprünglichen Wurzeln entsprechen.

*Sollten Sie darüber hinaus weiteres Interesse am Brutalismus haben, empfehlen wir Ihnen einen Besuch im  Vitra Design Museum, wo bis zum 20. April 2017 dem Brutalismus gedacht wird.

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