Der glamouröse Reiz des Art Deco der 1960er bis 1990er Jahre


Eine Liebesgeschichte

Von Wava Carpenter, Rachel Miller

Für diejenigen von uns, die in der Zeit des Blitzkriegs 1940 auf die Welt kamen, wurden die Zwanziger und Dreißiger von unseren Eltern als goldenes Zeitalter beschrieben… Diese Zeitspanne übte fortan eine voyeuristische, beinahe morbide Faszination auf uns aus.
—Bevis Hillier, wegweisender Art Déco Historiker und Kurator, dem oft die Prägung des Begriffs „Art Déco“ zugeschrieben wird, zitiert aus einem Artikel in der Minneapolis Star, 1971

Manchmal scheint es so, als ob die Hälfte dieses Landes sich wünschte, eng umschlungen mit Fred Astaire und Ginger Rogers durch einen Festsaal der 30er Jahre zu tanzen.
—“The Meaning of Nostalgia” von Journalist Gerald Clark, Time Magazine, 1971

Der Zweite Weltkrieg (1939-1945) regte eine massive industrielle Mobilisierung an und führte zu einzigartigen technologischen Fortschritten. Die rationalistischen, funktionalistischen Prinzipien modernen Designs stellten den Glanz des Art Déco quasi in den Schatten. Weltweit bleiben jedoch ein paar Möbelhersteller*innen in der frühen Nachkriegszeit den maßgeschneiderten, dekorativen und handwerklichen Ansätzen des Art Déco treu. Design-Expert*innen dieser Zeit – solche, die Zeitschriftenartikel verfassten, Ausstellungen in Museen kuratierten und Geschmäcker großer Bevölkerungsgruppen beeinflussten – nahmen diese aber kaum ernst. Die Stilrichtung des Art Déco wäre wohl komplett erlischt, wäre es da nicht für die Generation, die in den 1960ern erwachsen und während oder knapp nach der eigentlichen Hochblüte des Art Déco geboren wurde.

Mitte bis Ende der 60er Jahre herrschten zahlreiche günstige Voraussetzungen für das Wiederaufleben des Art Déco Stils. Der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit ließ nach und führte in den 1970ern zu einer weltweiten Rezession. Fortschrittsglaube und ein allgemeiner Optimismus, die die 1950er Jahre prägten und auch die Verbreitung der internationalen Bewegung der Moderne anspornten, verblassten mit dem Aufkommen von Bewegungen zur sozialen Gerechtigkeit und der Entstehung der Gegenkultur. Lautstark machten diese auf die Schwächen des Kapitalismus, der Konsumkultur und des Konformismus aufmerksam. Unzählige junge Leute, die mit den vorherrschenden Umständen unzufrieden waren, blickten sehnsüchtig auf eine Epoche zurück, die sie nur aus Filmen oder von der vormodernen Kunst kannten. Folglich beleuchteten Einrichtungen in Europa und den USA das kulturelle Erbe der viktorianischen Zeit über die 1930er. Die Filmindustrie brachte zahlreiche stylische Kostümfilme heraus, wie Bonnie & Clyde (1967) oder The Great Gatsby (1974). Modedesigner*innen wie Barbara Hulanicki von Biba bedienten sich den Silhouetten aus dem Jazz-Zeitalter.

Twiggy im Biba Rainbow Room, Kensington High Street, in den späten 1960ern, Fotograf unbekannt Foto © V&A Museum

Vor dem Hintergrund dieser nostalgischen Stimmung fanden antike Händler*innen ein nach Art Déco Dekor hungerndes Publikum vor, darunter internationale Jetsetter wie Yves Saint Laurent und Elton John. Junge Designer*innen, vor allem in Italien und dem Vereinigten Königreich, lehnten die in ihren Augen seelenlose, starre, anti-historistische Haltung der Moderne ab. An dessen Stelle legten sie das Fundament für die postmoderne Bewegung des Radical Design, deren Ziel es war, den Begriff von Zweckmäßigkeit um geisteswissenschaftliche, romantische und gesellschaftliche Ideale zu erweitern. Und so kam es, dass über den Rest des 20. Jahrhunderts immer wieder Formen, Proportionen, Materialien und Motive als Remix des Art Déco in unterschiedlichen Kontexten aufkamen.

Lesen Sie weiter, um einige unserer Lieblingsmomente des Art Déco im späten 20. Jahrhundert zu entdecken.

 

Elysée Sessel von Pierre Paulin, 1972 Foto © Jousse Entreprise
Space Age Art Déco

In den 1960ern nutzte eine Handvoll moderner Designer*innen nagelneue formbare Materialien, um großzügig proportionierte, biomorphe Entwürfe zu gestalten, die eine allumfassende Ruhe zelebrierten. Heute bezeichnen wir diesen Look als Space Age. Designer*innen wie Pierre Paulin, Joe Colombo und Verner Panton, suchten zwar nicht im Zeitalter des Art Déco ihre Inspiration – sie begeisterten sich weiterhin für den modernen, anti-historistischen Ansatz – aber ihr Drang, experimentelle umfangreiche Ausstattungen für eine schöne neue Welt zu erschaffen, resultierte oftmals in Objekten und Interieurs, die eine aufregende, pulsierende Stimmung vermittelten. Ihre kompromisslose Nutzung von leuchtenden Farben, reflektierenden Oberflächen und in einigen Fällen wilden Mustern zeigte, dass der Geschmack sich in Richtung vormoderner Üppigkeit bewegte.

 

Africa Stühle von Tobia & Afra Scarpa für Maxalto, 1975 Foto © Wright
Weltläufige italienische Designer*innen der 1970er

In den 1960ern traten bereits zahlreiche italienische Designer*innen und Marken als weltweite Influencer hervor. Das „Made in Italy“ Label wurde zu einem internationalen Leistungsversprechen. Mit so viel nationalem Talent und so vielen Gelegenheiten erzielte Design in Italien in den 1970ern ein außergewöhnliches Niveau stilvoller Eleganz. Die Generation an Architekt*innen, die gleichzeitig als Designer*innen arbeiteten und während dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit ihren Univeritätsabschluss erhielten, darunter Gae Aulenti, Cini Boeri, Vico Magistretti, Angelo Mangiarotti und Tobia und Afra Scarpa, waren alle in ihrer einzigartigen, fruchtbaren Designkultur vertieft. Sie überwanden die Naivität der frühen Mid-Century Modern Designs, indem sie gekonnt reduzierte Formen mit edlen Materialien verbanden und mit einem Hauch dezenter aber unwiderstehlicher Ästhetik versahen. Ohne eine radikale Haltung zu formulieren, bewiesen sie jedoch, dass archetypische Formen aus der Festkörpergeometrie nicht zwangsweise langweilig sein müssen und dass Dekoratives Funktionales nicht ausschließen muss.

 

Ellisse Couchtisch von Gabriella Crespi, 1976 Foto © Cambi Casa d'Aste
La Dolce Vita

Viele italienische Designer*innen der 1970er vollzogen eine Gratwanderung zwischen Mäßigung und Schnörkel. Manche jedoch waren der Auffassung, es sei höchste Zeit, aufs Ganze zu gehen und zu einem Art Déco Stil zurück zu kehren, der von Opulenz geprägt war. Zu nennen sind an dieser Stelle Gabriella Crespi und Willy Rizzo (beide wurden in Italien geboren, waren aber oft in Paris oder anderen exotischen Orten auf der Welt anzutreffen). Glanz stand auf dem Programm und wurde komplett ausgelebt: Handgefertigte Designs aus Messing, Edelstahl, Wurzelholz, Rattan, Halbedelsteine, Travertin, Leder, Ziegenfell und Samt. Diese Arbeiten der 70er Jahre wiesen eine direkte Beziehung zum Ursprung des Art Déco Stils auf. Seine Fans aus dem Jetsetter-Zeitalter überschnitten sich mit denen, die die Entwicklung zum Sammeln der Original Art Déco Antiquitäten beflügelten. Andere Designer*innen, die zu dieser Stunde der Eleganz gehören, die auch als Vetter des Hollywood Regency bezeichnet wird, sind unter anderen Romeo RegaMassimo Papiri , Maria PergayMaison Jansenund Maison Charles.

 

Plaza Frisiertisch von Michael Graves für Memphis, 1981 Foto © MFA Boston
Radikales Art Déco

Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er führte die Bewegung des Radical Design zu den – wie sie später bezeichnet wurden – postmodernen Prinzipien. Seine Befürworter*innen waren der Meinung, dass die Beharrlichkeit der Moderne auf reine Nützlichkeit, einem Mangel an Ornamentik, Massenproduktion und im weiteren Sinne Massenkonsum, Lebenswelten gefährdeten, die somit an Seele und Bedeutung verloren. Ihre Lösung war es, sich einer Reihe historischer Stile und Motive zu bedienen und Ideen aus der Pop Art, Popkultur und östlichen Religionen zu erkunden, während sie hingebungsvoll geringe und hochgradige Materialien miteinander mischten. Insbesondere geometrische Ornamente, wirre Schlaufenmuster und gestufte, von Wolkenkratzern inspirierte Formen des Art Déco Mobiliars und Beleuchtung der 20er und 30er Jahre wurden regelmäßig neu interpretiert, wie beispielsweise von Archizoom, Alchimia, Memphis Group, Michael Graves und weiteren Anti-Designer*innen. Hochmoderne Influencer wie David Bowie und Karl Lagerfeld wurden zu eifrigen Sammlern.

 

Juicy Salif Zitronensaftpresse von Philippe Starck für Alessi, 1986-1990 Foto © Alessi
Art Déco um die Jahrtausendwende (mit einem Hauch Ironie)

Ende der 80er Jahre ging der Radical Design Bewegung die Luft aus. So endete das Jahrhundert mit wenig Diskussion um die Bedeutung des Art Déco für die Designgeschichte. Generell war zu beobachten, dass Mode und Inneneinrichtungen sich wieder dem Minimalismus zuwendeten. Möbel und Accessoires hingegen wiesen zunehmend Glätte durch die Verfügbarkeit neuer Materialien auf. Doch das Jahrhundert ging nicht ohne ein paar zusätzliche Verbeugungen und Verweise an unser geliebtes Jazz-Zeitalter zu Ende. Eines der frühesten (und heute kostbarsten) Werke von Marc Newson beispielsweise, Pod of Drawers (1987), ist ein handgeschweißtes, Punkrock Remake von André Groults Art Déco Chiffonier aus dem Jahr 1925. Während der 1990er entstanden aus Ron Arads Vorliebe für vormoderne Formen, wie überfüllte Polstersessel, Neuinterpretationen aus oftmals harten Materialien wie Metall und Kunststoff. Sie ähnelten dem Frühwerk des Designers und Spaßvogels Philippe Starck, der dafür bekannt wurde, eine Zitronenpresse so stromlinienförmig wie ein Zeppelin zu gestalten. Wir dürfen auch nicht die ikonischen Interieurs für die Schrager Hotels vergessen, die unter anderen den glamourösen Delano in Miami Beach und Clift in San Francisco umfassen.

 

Verfolgen Sie auch Teil 3 unserer Art Déco Serie, die von üppigen Proportionen, pulsierenden Gestaltungen, dramatischen Mustern, feinstem Handwerk und kostbaren Materialien bis in das 21. Jahrhundert reichen, dank einer Auswahl an bekannten und aufkommenden zeitgenössischen Designer*innen, die mit ihren Art Déco inspirierten Entwürfen alle Blicke auf sich ziehen. Falls Sie Teil 1 verpasst haben, können Sie die Story hier lesen.

 

 

  • Text von

    • Wava Carpenter

      Wava Carpenter

      Seit ihrem Studium in Designgeschichte an der Parsons School of Design hatte Wava schon in vielen Bereichen der Designkultur den Hut auf: sie lehrte Designwissenschaft, kuratierte Ausstellungen, überwachte Auftragsarbeiten, organisierte Vorträge, schrieb Artikel und erledigte alle möglichen Aufgaben bei Design Miami. Wava lässt den Hut aber im Büro – auf der Straße bevorzugt sie ihre Sonnenbrille.
  • Text von

    • Rachel Miller

      Rachel Miller

      Rachel kommt aus Kalifornien, USA. Derzeit lebt sie in Berlin und macht in Literaturwissenschaften ihren Master. Wenn sie nicht gerade liest oder schreibt, ist sie auf der Suche nach Berlins bestem Craft Bier. Ihre Reiselust inspiriert sie zu großen Abenteuern an verschiedensten Orten auf der Welt sowie zuhause in ihrer Küche.

  • Übersetzung von

    • Jessica Hodgkiss

      Jessica Hodgkiss

      Jessica ist Cheesecake-Enthusiastin, Kunstliebhaberin und man findet sie häufig auf Flohmärkten. Außerdem liebt sie es, Zeit in Berlins wunderschönen Parks und den Seen in der Umgebung zu verbringen. Die in München geborene Übersetzerin studiert zur Zeit Kunstmanagement im Master.

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