Die digitale Ästhetik des Cyberspace erreicht die Welt der Innenarchitektur


Revolution der Pixel

Von Gretta Louw

Kultur ist ein lebendiger Organismus, der eine ständige Rückkopplungsschleife zwischen uns und unserer Umwelt bildet. Alle neuen Technologien entstehen im Rahmen bestimmter kultureller Parameter – gleichzeitig treiben technologische Neuschöpfungen unsere kulturelle Entwicklung voran. Mit anderen Worten, wir gestalten nicht nur innovative Technologien, sondern immer auch uns selbst.

Von heute auf morgen brachte die digitale Revolution das Internet zuerst zu uns nach Hause und später in unsere Hosentaschen. Der sich ständig verändernde kulturelle Evolutionsprozess wurde so auf Hochtouren beschleunigt: die Bilderflut, der wir täglich ausgesetzt sind, ist ein Katalysator für immer neue Trends, Themen und ästhetische Variationen. Digitale Plattformen, auf denen sich Künstler*innen und Designer*innen jederzeit mühelos austauschen können, verstärken und begünstigen diese Entwicklung. Der Einfluss von Technologien auf kreative Berufe ist so enorm, dass auch Produktdesigner*innen und Innenarchitekt*innen sich ihm schwer entziehen können. Längst hat die digitale Revolution Einzug in die technisch und visuell ausgerichtete Sprache ihrer Arbeiten gehalten.

Das Pixel legte den Grundstein für diese digitale wie visuelle Kommunikation und gilt als wohl bekannteste Methode der Bildübertragung: ein Bild wird auf winzige Datenpakete heruntergebrochen, die um die ganze Welt versendet und anschließend automatisch wieder zusammengesetzt werden können. Die neue Definition von Visualität – ob hohe oder niedrige Auflösung, klar oder verpixelt – hat auch die Art verändert, wie wir über Objekte selbst denken. Der avantgardistische Designer Kunihiko Morinaga vom japanischen Studio Anrealage entwarf 2011 eine auf Pixeln basierende Modekollektion und Möbellinie. Die Ecken und Kanten schlecht aufgelöster digitaler Bilder wurden hier zurück in die analoge Welt transportiert: unter anderem entstand eine Arbeit, die auf den ersten Blick wie ein verschwommener Perserteppich wirkt, und ein klassischer Esstisch mit 8bit-Profil. Auch die Piccadilly Kollektion von Boca do Lobo für Covet Paris vermischt klassische Elemente mit makellosen, geometrischen Details. Die an Antiquitäten angelehnten Arbeiten spielen mit dem Effekt von Fotos, die nicht vollständig geladen wurden – die digitale Bildverarbeitung überschreitet hier die Schwelle zur Realität.

Im Gegensatz zur Digitalfotografie basieren grafische Elemente von Videospielen und Virtual Reality auf sogenannten Polygonen. Diese eindimensionalen Formen werden in mühsamer Kleinarbeit so zusammengesetzt, dass daraus computergenerierte dreidimensionale Objekte entstehen. Entwürfe, die aus sehr vielen Polygonen bestehen – sogenannte „High-Polys“ – wirken aus diesem Grund erstaunlich realistisch. Low-Poly-Grafiken hingegen sind Schichtungen geometrischer Formen, die den Umriss kurvilinearer Objekte umgreifen. Der Künstler Matthew Plummer Fernandez drehte den Prozess, bei dem analoge Objekte auf den digitalen Raum übertragen werden, in seiner Serie Digital Natives (2012) um: Alltagsgegenstände wurden zunächst mit einem 3D-Scanner erfasst, dann virtuell per Algorithmus verändert und schließlich mit Hilfe eines 3D-Druckverfahrens als Serie von Gefäßen realisiert. Auch die Poligon Cups von Sander Lorier für Studio Lorie spielen mit dem Konzept, Objekte digital im physischen Raum darzustellen. Der Designer selbst bezeichnet seine Arbeiten treffend als „Porzellangeschirr in niedriger Auflösung.“

Oberes Bild: ein Glitch-Portrait der Medienkünstlerin Roͬͬ͠͠͡͠͠͠͠͠͠͠͠sͬͬ͠͠͠͠͠͠͠͠͠aͬͬ͠͠͠͠͠͠͠ Menkman. Unteres Bild: ein Glitch-Foto von Roͬͬ͠͠͡͠͠͠͠͠͠͠͠sͬͬ͠͠͠͠͠͠͠͠͠aͬͬ͠͠͠͠͠͠͠ Menkman, eine Auftragsarbeit von Dior für das Lady Purse Dinner im Museum of Modern Art Tel Aviv. Foto © Roͬͬ͠͠͡͠͠͠͠͠͠͠͠sͬͬ͠͠͠͠͠͠͠͠͠aͬͬ͠͠͠͠͠͠͠ Menkman
Unser digitales Zubehör mag makellos glatt erscheinen und auch die Technikbranche wird nicht müde, uns von seiner Perfektion überzeugen zu wollen. Dennoch wissen alle, die sich intensiver mit der digitalen Welt beschäftigen, dass Signalstörungen und Systemabstürze – sogenannte „Glitches“ – präsenter sind denn je. Was als ungeplanter Störfaktor begann, wurde von Kreativen schnell als neues ästhetisches wie politisches Medium erfasst. Eine der ersten Vertreter*innen dieser neuen Ästhetik, die Künstlerin Rosa Menkman, erklärt in ihrem Manifesto, warum die unverwechselbaren digitalen Fehler ihren ganz eigenen Wert haben. Glitches, so schrieb sie 2009, seien „erlebte Unterbrechungen, die ein Objekt auf wundervolle Weise aus seiner gewohnten Form und seinem Diskurs entheben.“

Ihre Worte spiegeln sich in der Arbeit des Designers Pietro Ferruccio Laviani wider, der für seine Serie Good Vibrations Möbelhandwerk in das digitale Zeitalter transportierte, indem er archetypische Formen am Computer verzerrt und sie mit erstaunlicher Detailgetreue realisiert. Der amerikanische Designer Christopher Stuart hingegen arbeitet bei der Serie Constructs & Glitches für The Future Perfect mit gerade jenen Störungen und Fehlern von CAD-Software, die im Design für gewöhnlich als Erzfeinde gelten: die unbeabsichtigten digitalen Artefakte sind hier im wahrsten Sinne des Wortes formgebend. Auch die Glitch Textiles (2012) von Designer Phillip David Stearns aus Brooklyn zelebrieren das verworrene und irritierende Weltbild, das durch Glitches entsteht. Das gesamte Feld kreativer Produktion befasst sich im Grunde damit, zu verstehen, wie Algorithmen und Maschinen die Welt „sehen“ und wie unser Umgang mit ihnen wiederum unsere eigene Wahrnehmung verändert.

Die kognitive Verschmelzung von Mensch und Maschine führt aber nicht immer in eine fremde Welt von Pixeln und Abstraktion – ganz im Gegenteil: Erfindungen wie das Mikroskop und leistungsstarke Teleskope, gemeinsam mit den schier endlosen neuen Möglichkeiten von 3D-Scannern und -Druckern, erweitern manchmal auch unsere Fähigkeit, die natürliche Welt wahrzunehmen. Die Produktion der Matterlight Table Lamp des schweizer Designers Boris Dennler wurde beispielsweise erst durch Projektionsmapping und Dronentechnologien möglich: aus Harz, Messing, Nussholz und LEDs entstand eine präzise Nachbildung des berühmten Matterhorns. Mit unseren neuen, digitalen „Augen“ können wir Formen sehen und reproduzieren, die sich unserem Blick zuvor völlig entzogen hatten.

Das Binary Cabinet von Benjamin Rollins Caldwell Foto © Benjamin Rollins Caldwell
Der physische Aspekt von Internet und digitalen Technologien, die Hardware, wird dabei oft übersehen. Der Mythos einer gestaltlosen Digitalität – also die Idee, dass der Cyberspace als Paralleluniversum die natürliche Welt mit Kabeln, Stromquellen und Steuerelektronik ausschließt – lässt sich schwer abschütteln. Und die falsche Annahme hat dramatische Folgen für den allgemeinen technologischen Diskurs. Es überrascht also nicht, dass so viele Künstler*innen und Designer*innen den Schwerpunkt ihrer Arbeiten auf das physisch verankerte, greifbare Fundament richten, das Digitaltechnik erst ermöglicht. 2011 veröffentlichte der amerikanische Künstler und Designer Benjamin Rollins Caldwell seine außergewöhnliche Kollektion Binary: die Serie einzigartiger Tische, Stühle und Schränke aus ausgedienten Elektroteilen hebt die eigentümliche Ästhetik dieser hochtechnisierten Elemente hervor, die sonst im Verborgenen bleiben. Gleichzeitig setzt sich die Arbeit mit den Unmengen an Elektromüll auseinander, die wir durch unseren anhaltenden Modernisierungswahn und geplanter Obsoleszenz selbst vorantreiben. 

Digitale Technologien, Geräte und das Internet haben mittlerweile beinahe jeden Aspekt unseres Alltags wie auch unsere Kunst und Kultur erreicht. Damit haben sie einen starken Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung des 21. Jahrhunderts. Als Schnittstelle zwischen Kultur und Produktion eignet sich Design sehr gut, um nicht nur unsere Interaktion mit fortschreitenden Technologien zu reflektieren, sondern gegebenenfalls auch zu steuern. Während experimentelle und kritische Arbeiten bereits den Status von Kunstobjekten erreicht haben, zeigen uns Designer*innen, die digitale Formen in physische Räume projizieren, dass virtuelle und reale Welt untrennbar sind. Es steht außer Frage, dass dieser kulturelle Nährboden in den nächsten Jahren aufregendes, fesselndes und konzeptionelles Design hervorbringen wird.

 

*Mehr Designideen aus der virtuellen Welt gibt es in unserer Partnerstory Digitale Dimensionen: in sieben Entwürfen trifft hier Technik auf Handwerk.

 

  • Text von

    • Gretta Louw

      Gretta Louw

      Die multidisziplinäre australische Künstlerin Gretta wurde in Südafrika geboren und lebt zurzeit in Deutschland. Sie ist Sprachenthusiastin und Weltenbummlerin, hat einen Abschluss in Psychologie und eine große Vorliebe für die Avantgarde.

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