Wie im 20. Jahrhundert Möbel zunehmend aus Kunststoff produziert wurden


Die Geburt des Kunststoffs

Von Gretta Louw

Betrachtet man die Mengen an Kunststoff auf dem Markt und ihr Vorkommen in jeglichen Lebensbereichen, ist es kaum vorstellbar, dass Kunststoff vor unter hundert Jahren praktisch nicht existierte. Ökologische Bedenken unserer Zeit führten dazu, dass Kunststoff heute immer unbeliebter wird. Dennoch, ohne das synthetische Material, das im 20. Jahrhundert so beliebt war, wären viele der ikonischen und innovativen Designs der Nachkriegszeit nicht entstanden. In diesem Artikel erweisen wir den wegbereitenden Designer*innen, Unternehmen und Projekten unseren großen Dank für den Schatz an Kunststoffprodukten, den sie uns hinterlassen haben.

Die Anfänge

Die Geschichte besagt, dass Zelluloid, der erste Kunststoff, der gewerblich genutzt wurde, durch den amerikanischen Erfinder John W. Hyatt um 1860 kreiert wurde. Seinen ersten Auftritt hatte es in einem Wettbewerb einer US-amerikanischen Billardkugelfirma, die einen Herstellungsersatz für Elfenbein suchte und dem Gewinner 10.000 Dollar Preisgeld überreichen wollte. Hyatt gewann zwar nicht, dennoch brachte ihm seine Erfindung kommerziellen Erfolg ein, sowie einen Eintrag in den Geschichtsbüchern. Damit startete er eine globale Mission, jeder Einschränkung und Missbilligungen der Menschheit durch Produkte aus Kunststoff entgegenzuwirken. Der Traum von langlebigen Strumpfhosen, preiswerten Teppichböden und leichten, problemlos zu reinigenden Möbeln verwirklichte sich!

Trotz Untersuchungen zur pflanzlichen Zellulose und ein paar modifizierten neutralen Polymeren wie Viskose, kam die nächste große Entwicklung des Kunststoffs erst nach der Jahrhundertwende als der belgisch-amerikanische Chemiker Leo Hendrik Baekeland den ersten komplett synthetischen Kunststoff entwarf, nämlich Bakelit. Ein paar Jahrzehnte später kam Acrylite auf den Markt. Acrylite war das Ergebnis jahrelanger Forschungen in zahlreichen Chemielaboren weltweit. Zwischen den 1920ern und 1950ern wurden diese frühen Kunststoffe für alles benutzt, von Knöpfen und Rohren über Radio und Fernseher sowie Bombengehäuse und anderen Bauteilen der Kriegsmaschinerie und -rüstung. Die Weltwirtschaftskrise, die auf den Zweiten Weltkrieg folgte, wird oft als Grund für die Beliebtheit des Kunststoffs genannt. Viele haben zwar ihr Vermögen verloren, nicht aber ihr Bedürfnis nach Accessoires, so dass es dem Bakelit, Acrylite und ähnlichen Stoffen erlaubte, den Schmuck dieser Ära zu prägen.

Die Nachkriegszeit

Die frühen Varianten des Kunststoffs erwiesen sich jedoch als zu schwer und zu sperrig, um ernsthaft als Materialien zur Verwendung im modernen Möbeldesign in Betracht gezogen zu werden. Die Entwicklung des Kunststoffs fruchtete jedoch in den USA der Nachkriegszeit und so breitete sich das Material unter Babyboomern und den zugewanderten europäischen Flüchtlingen aus. Diese waren der vorherrschenden Wohnungsnot ausgeliefert und so waren Kunststoffprodukte als preisgünstiges, platzsparendes Design sehr beliebt. Gleichzeitig ging die Waffenindustrie mit ihrer High-Tech Expertise zur Produktion von Massenware über. Die amerikanischen Konsument*innen konnten die Vorteile der wachsenden Wirtschaft spüren. Ein Optimismus gegenüber der Zukunft machte sich in der amerikanischen Gesellschaft breit.

Im Januar 1948 kündigte das Museum of Modern Art seinen internationalen Wettbewerb für preisgünstige Möbel an, der sich als wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Kunststoffs im Design herausstellte. Der amerikanische Architekt Donald Knorr gewann mit einem Stuhl, der ursprünglich als dicke Schicht thermischen Kunststoffs konzipiert wurde, den ersten Preis in der Kategorie für Sitzmöbel (im Gleichstand mit Georg Leowald). Knoll nahm schließlich die Produktion von Knorrs Stuhl auf, dabei wurde Stahlblech von einer Schicht biegsamer Farbe ummantelt, nachdem die Gussformen für die Variante aus Kunststoff sich als zu teuer erwiesen.

Charles und Ray Eames starteten ihre Suche nach preisgünstigem hochqualitativem Möbeldesign bereits 1940. Sie reichten für den MoMA Wettbewerb zwei Entwürfe ein, die das Potential von Kunststoff ausschöpfen sollten - ihr zumindest theoretisches Ziel: bequem auch ohne Polsterung und einfach in der Massenproduktion. Fiberglastechnologie (Kunststoff mit Glasfaser verstärkt) kam aus der Automobilindustrie und wurde in Zusammenarbeit mit Herman Miller Furniture Company entwickelt, die für die Herstellung des profitablen massenproduzierten Eames DAX Stuhls verantwortlich war, nachdem dieser im Wettbewerb den zweiten Platz belegte (die Produktion wurde später von Vitra weitergeführt). Obwohl der Entwurf nicht den ersten Platz belegte, wurde der 1948er Entwurf von Eames aus geformten Kunststoff und Fiberglas, La Chaise, zur Ikone der Designgeschichte. Der Stuhl weist eine elegante Linienführung und eine eindrucksvolle Materialkombination auf. Leider war es zu kostenaufwendig La Chaise auf dem Markt der Nachkriegszeit zu produzieren. Eames langjähriger Partner Vitra nahm jedoch 1996 die Produktion des Stuhls wieder auf.

Die 50er Jahre

Eero Saarinen wollte 1953 mit seinem Tulip Stuhl die „Tyrannei der Stuhlbeine“ beenden, wie er es beschrieb. Wieder waren die Kunststoffe dieser Zeit nicht das, was sich Saarinen erhoffe. Deshalb gab es den ersten Stuhl in der Ausführung eines aus Fiberglas geformten Sitzes mit einem Fuß aus gegossenem Metall. Die beiden Elemente wurden lackiert, um ein einziges Stück vorzutäuschen. Dieser Stuhl war nur einen Schritt vom modernen Meisterstück entfernt: ein Stuhl, der aus einem einzigen Material in einem einzigen Guss produziert wurde.

In den 50ern wurde auch die Firma Kartell immer bekannter. Kartell stand für innovative Designs aus Kunststoff und gewann den ersten Compasso d’Oro Preis in 1955 und zwei weitere in 1957 und 1959 für seine revolutionäre Küchenware aus Kunststoff.

Die Sechziger & Siebziger Jahre

Joe Colombo Mit freundlicher Genehmigung von Studio Joe Colombo
Kartell gründete seine Habitat Abteilung 1963 und erweiterte sein Sortiment von Haushaltsware und Beleuchtung um Kunststoffmöbel. Die bahnbrechenden Designs des Hauses in dieser Zeit beinhalteten den 1964 K1340 Kinderstuhl (später als K 4999 bezeichnet). Kartell zufolge war dies der erste Stuhl komplett aus Kunststoff. Drei Jahre später stellte Kartell in Zusammenarbeit mit Joe Colombo den ersten komplett gewerblich hergestellten Kunststoffstuhl her. Die Universale Stühle waren sehr vielseitig: größenverstellbar, stapelbar und in vielen Farben erhältlich.

Der Körperkonturtrend wurde durch Eames angeführt. Knorr begegnete diesem Trend mit Fortschritten in der Kunststofftechnologie und infolgedessen mit zeitlosen Klassikern, wie dem 1967 Panton Stuhl von Verner Panton. Vitra war von Anfang an ein Verfechter dieses Stuhls. Eckart Maise, der derzeitige Chef des Designbüros, nennt das Stück „das perfekte Gleichgewicht von Technologie, Material und Ästhetik“. Der Panton Stuhl war der erste Stuhl, der in einem Guss und komplett aus Kunststoff hergestellt wurde. Maise sagt, dass der Stuhl den Ausdruck des Materials verkörpert und eine innovative Freischwinger-Struktur mit einer anthropomorphen Form zu Komfort und extremer Formeleganz vereint. Heute ist Vitra immer noch für die Produktion des allseits beliebten Produkts zuständig und zwar in zwei Variationen: in hohem Glanz als luxuriöser Panton Stuhl Classic und seit 1999 (als die ursprüngliche Idee des Designers endlich durch Fortschritte hinsichtlich Stärke und Stabilität des Kunststoffs realisiert werden konnte) dem preisgünstigen, matten Panton Stuhl.

Kunststoff eröffnete am Anfang eine komplett neue Welt und stellte für kühne Designer*innen Neuland dar.

Spricht Maise über die vielen Kunststoffdesigns der letzten 50 Jahre meint er, dass Kunststoff am Anfang eine komplett neue Welt eröffnete und für kühne Designer*innen Neuland darstellte. Das neue Material ermöglichte es, dreidimensionale Formen zu entwickeln und mit Farben zu experimentieren, die zuvor nicht realisierbar waren. Der avantgardistische italienische Designer und Architekt Gaetano Pesce war für die etwas surrealen Designkonzepte aus der Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Seine Serie der UP Sessel und Fußhocker der späten 1960er, eine weitere Zusammenarbeit mit Vitra, nutzte den Polyurethanen Schaumstoff, um umfassende Pop Art inspirierte Formen zu kreieren, die natürliche Gegenstücke zu den starren Kunststoffdesigns von Panton, Eames und anderen darstellten. Die UP Stühle konnten vakuumverpackt werden und sparten somit bis zu 10% des ursprünglichen Volumens ein. Dadurch wurde der Transport erleichtert und die ursprüngliche Form nach Entfernen der Verpackung wieder hergestellt.

Die Extravaganz der 60er überschnitt sich mit den Entwicklungen des Materials Kunststoff und führte zu einigen der unvergesslichsten und exzentrischsten Designs des letzten Jahrhunderts. Stücke wie das Throw-Away Sofa von Willie Landel, das 1965 aus erweitertem Polyurethane bestand und mit Leder- oder Stoffbezug ausgestattet und von Zanotta produziert wurde, stellte die traditionellen, spießigen Vorstellungen von Beständigkeit, Sicherheit und Sachwerten in Frage. Der finnische Visionär Eero Aarnio schöpfte das Material und seine Plastizität Mitte der 60er Jahre aus, wie an seinen verspielten aber funktionalen Stühlen BallBubble, und Pastil zu erkennen ist. Der vietnamesisch-französische Designer und Erfinder Quasar Khanh, der „Architekt der Lüfte“, lotete die Grenzen zwischen Fantasie und Design mit seiner Kollektion aufblasbarer Möbel aus, darunter die Aerospace Serie von 1968. Die handgemachten Stücke aus PVC wurden bis in die frühen 70er Jahre von einer Firma in Paris hergestellt, die sich auf Strandspielware spezialisiert hatte.

ABS, das Hauptmaterial von Kartells Design, zeichnet sich durch seine hervorragende Oberflächenqualität, Glanz und Farbigkeit aus. ABS ist ein thermoplastisches Polymer, welches von Lego als auch von Ettore Sottsass für Arbeiten für Olivetti genutzt wird. Das erste Bücherregal komplett aus Kunststoff war Giulio Polvaras stapelbares, modulares Regalsystem 4760/4765 aus dem Jahr 1975. Es wurde aus ABS hergestellt, wie auch ein paar Jahre zuvor die Componibili Serie (1969) von Anna Castelli Ferrieri. Diese revolutionäre Serie bestand aus gerundeten, modularen und mobilen Lagereinheiten und wurde ebenso von Kartell produziert. Sie ist bis heute einer der Verkaufsschlager der Firma. Ferrieri ist Meisterin des Kunststoffdesigns und gewann für ihre Objekte viele Preise, wie für ihren 4870 Stapelbaren Stuhl in 1982 und für ihre Kollektion schöner und praktischer Tischware für Kartell in 1976.

Nicht alle Designer*innen der 1960er und 70er waren auf die Erschwinglichkeit oder auf die revolutionären Möglichkeiten des neuen Materials bedacht. Am oberen Ende des Spektrums arbeiteten Designer wie Karl Springer, Vladimir Kagan und Gaetano Sciolari mit dem beständigen, eleganten Material Acrylglas. Maria Pergay, die unanfechtbare Königin des Edelstahls, erkannte schnell das Potential von Kunststoff und kombinierte naturbelassenes Plexiglas mit sterilem Stahl, um unglaublich elegante und in der Tat revolutionäre Werke, wie den Acier Stühlen um 1969, zu entwerfen.

Das neue Millennium

Seit dem farbigem Flair im Design der 1960er und 70er und dem leistungsstarken Kunststoff der 80er und 90er, waren Entwürfe zunehmend auf Stabilität und auf die konstruktiven, technischen Eigenschaften des Materials bedacht. Pergays Landsmann, Philippe Starck, ist vielleicht der bekannteste Name im Kunststoffdesign des späten 20. Jahrhunderts und im Übrigen ein Anhänger Khans. Starcks La Marie Stuhl für Kartell von 1999 war weltweit der erste transparente Stuhl aus Polycarbonate. Luxusdesigns der Vorgänger, wie die Pergays, wurden somit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Die Zusammenarbeit von Starck und Kartell brachte 2002 auch den bahnbrechenden Louis Ghost Stuhl hervor.

Rückblickend war das Jahrhundert der Kunststoff-Innovationen von bemerkenswerten naturwissenschaftlichen Experimenten und künstlerischen Ausdrucksformen geprägt, die in beliebten Adaptionen mündeten. Institutionen, wie das Museo Kartell und das Vitra Design Museum, wurden um die Wende des 21. Jahrhunderts errichtet und dienen der Bewahrung von Kunststoffdesign-Ikonen des 20. Jahrhunderts. Sie tragen auch zur wesentlichen Forschung und Konservierung einiger früher, weniger stabilen Kunststoffmaterialien bei (die Schaumstoffstücke der 60er sind besonders empfindlich).

 

 

Vielen Dank an Chemical Heritage FoundationStudio Joe Colombo, Eero Aarnio Studio, Velvet GalerieMuseo KartellKnoll International, Vitra und Zanotta für die vielen tollen Fotos!

 

  • Text von

    • Gretta Louw

      Gretta Louw

      Die multidisziplinäre australische Künstlerin Gretta wurde in Südafrika geboren und lebt zurzeit in Deutschland. Sie ist Sprachenthusiastin und Weltenbummlerin, hat einen Abschluss in Psychologie und eine große Vorliebe für die Avantgarde.

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